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„Dem kann kaum ein menschliches Gehirn widerstehen“

Dem „Treffpunkt“, dem (im Übrigen sehr lesenswerten) Magazin der Schule des Schreibens durfte ich für seine neue Ausgabe ein Interview geben. Darin erfährst du nicht nur, warum Geschichten so überzeugend sind, sondern auch welche Rolle Romanfiguren für deine Marke spielen und was das Langweiligste war, das ich jemals getan habe. Das Interview, das du hier nachlesen kannst, führte Daniela Nagel.

Interview & Text: Daniela Nagel

(Foto: Marion Koell

Das Thema Storytelling taucht in den letzten Jahren überall auf – interessanterweise gar nicht so sehr im Kontext des klassischen Geschichtenerzählens, sondern vielmehr in allen Bereichen, in denen es darum geht, Produkte oder Dienstleistungen zu verkaufen.

Was ist Storytelling und wie können Autor*innen es nutzen? Der Treffpunkt hat für diese Frage den Düsseldorfer Autor und Dozenten Stefan Keller interviewt, der Experte auf dem Gebiet des Storytelling ist.

Stefan Keller gibt seit Jahren Kurse zum Thema, hat zahlreiche Krimis und soeben sein Sachbuch „Vom Mythos zum Selfie“ zum Thema Storytelling veröffentlicht.

Lieber Herr Keller, fangen wir mit der Definition an. Was ist Storytelling überhaupt?

Gute Frage. Im engeren Sinne ist es eine Technik, mit der Wissen, Ideen oder Produkte in Form von Geschichten vermittelt werden. Allerdings umfasst der Begriff ursprünglich weit mehr, nämlich die Kulturtechnik des Geschichtenerzählens und vor allem die Werkzeuge, die dabei zum Einsatz kommen. Letzteres steht für mich in meiner Arbeit in unterschiedlichsten Bereichen im Mittelpunkt. Ich bringe meinen Werkzeugkasten mit, um mit Storys Menschen in ihrer Kommunikation zu unterstützen.

Normalerweise denken wir beim Geschichtenerzählen oder Storytelling als erstes an Romane, Spielfilme oder Serien, an Märchen, Dramen und Sagen. Wenn es um Storytelling geht, etwa auf der Homepage von Werbeagenturen, dann bezieht sich das eher auf Marken, Produkte, Dienstleistungen oder Menschen in der Öffentlichkeit. Warum haben diese Branchen das Geschichtenerzählen auf einmal so für sich entdeckt? Oder war das schon immer so?

Geschichten bleiben im Gedächtnis

Zunächst einmal nimmt unser Gehirn Geschichten aufgrund ihrer Struktur und ihrer Emotionalität besser auf als reine Fakten und behält sie länger im Gedächtnis. Fürs Marketing ist das natürlich Gold wert (buchstäblich). Aber ich bin zum Beispiel auch sehr viel in der Hochschuldidaktik und der Wissensvermittlung unterwegs – auch in der Lehre helfen Geschichten, Inhalte zu vermitteln. Und das ist im Grunde ein alter Hut. Denken Sie an das Alte Testament! Was fällt Ihnen da ein? Adam und Eva vielleicht, Moses, der das Rote Meer teilt, aber bestimmt nicht die Namen der Richter, wie sie im gleichnamigen Buch aufgezählt werden. Informationen werden vergessen, Geschichten nicht.

Das Story Consulting umfasst bei mir eigentlich alle Tätigkeiten, in denen ich beratend für andere tätig bin, die an Storys feilen. Das können Autor*innen sein, die ich in ihrem Erzählen begleite oder Unternehmen, die ich im Storytelling unterstütze. Dazu entwickle ich natürlich auch selber Geschichten, teils meine eigenen Projekte, aber auch für andere.

In der Fiktion ist alles erlaubt – aber wie sieht es mit dem Storytelling aus? Wo hört die „Verdichtung“ eines Geschehens auf, wo fängt die Lüge an?

Das ist eine schwierige Frage. Wenn IKEA zum Beispiel mit dem fiktiven Paar Smilla und Bo in verschiedenen kleinen Filmen für seine Produkte wirbt, ist jedem klar, dass er eine fiktive Geschichte sieht und das ist völlig ok.

Anders sieht es aber zum Beispiel in einem anderen Bereich aus, in dem Storytelling ebenfalls eine große Rolle spielt, der Politik nämlich. Donald Trumps Erzählung, er habe durch Wahlbetrug die Präsidentschaftswahl 2020 verloren, ist nachweislich falsch. Trotzdem hat sie zum Sturm auf das Capitol geführt. Und das ist nur ein Beispiel. Auch die britische Brexit-Kampagne 2016 folgte mit ihrem Slogan „Take back control“ einem sogenannten Narrativ, einem erzählerischen Thema, das sie aufgriff und immer aufs Neue bediente. Die Kampagne für den Verbleib in der EU hat versucht, mit Fakten gegen diese Kampagne anzukommen und ist damit folgenschwer gescheitert.

Unser Gehirn liebt emotionale Erlebnisse

Warum lieben Menschen Geschichten immer und überall? Nicht nur dann, wenn sie lesen oder Filme schauen?

Wie oben schon angesprochen: Geschichten kommen der Aufnahmefähigkeit unseres Gehirns sehr entgegen. Sie sind emotional, das suggeriert dem Gehirn Wichtigkeit. Sie erzählen meist von Menschen (oder zumindest menschlichem Verhalten), was uns als hochsoziale Spezies wahnsinnig interessiert. Und die Struktur einer gut erzählten Geschichte entspricht der Art, wie wir unsere Umwelt und was in ihr geschieht, wahrnehmen. Damit versprechen sie quasi eine Art Gratis-Erfahrung. Ich kann z.B. erleben, wie das ist von einem Killer gejagt zu werden, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Aber ich bekomme ein intensives emotionales Erlebnis. Dem kann kaum ein menschliches Gehirn widerstehen.

Wie können Autor*innen das Storytelling nutzen, um ihre Autor*innenmarke und ihre Bücher bekannter zu machen? Etwa in Social Media?

Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Autor*innen oder Verlage ihre Fähigkeiten im Storytelling kaum nutzen, wenn es um Marketing und Social Media geht. Letztendlich sind viele Werkzeuge, die ich einsetze, gleich: Figuren, Spannungsbögen mit außergewöhnlichen oder überraschenden Situationen, Bilder (auch im Sinne von Bildhaftigkeit), Gefühle. Wenn ich sehe, dass sich eine Veranstaltungsagentur in einem Post darauf beschränkt, die Biografie der Autorin hineinzukopieren, dann drehe ich innerlich durch.

Die Autorin, die arbeitslos und alleinerziehend im Café den künftigen Megabestseller schreibt, der Horrorautor, der Absagen auf einer Schnur auffädelt und dessen Frau sein Manuskript aus dem Papierkorb holt (gut, dass es nicht nur ein Dokument auf dem PC im virtuellen Papierkorb war), das zum Riesenerfolg wird … da kommen uns sofort bestimmte Schriftsteller*innen in den Sinn. Was ist, wenn mein eigenes Leben als Autor*in so langweilig und unspektakulär ist, dass ich absolut keine spannende Geschichte zu bieten habe?

Interessante Themen für die eigene Marke finden

Jetzt kommen wir also doch zu der Frage, die ich oben versucht habe zu umschiffen: Gibt es langweilige Menschen? Auf meinem Instagram-Profil stand in der Bio jahrelang nichts anderes als „A writer’s life – it’s boring but it works.“ Einfach, weil ich selbst nicht wusste, was ich posten soll. Mein Autorenleben IST langweilig. Ich hatte sogar mal einen Livestream laufen, da konnte man mir beim Schreiben zugucken. Das war das Langweiligste, was ich jemals gemacht habe (hoffe ich!). Also: Ja, es gibt langweilige Menschen. Mich zum Beispiel.

Warum ich für andere vielleicht doch interessant bin, ist das, was ich tue. Bei mir dreht sich eigentlich alles immer irgendwie um Storys. Wenn du etwas über Geschichten wissen willst, solltest du zu mir kommen. Das ist so etwas wie meine Kunden-Story: Du hast ein Problem mit deiner Geschichte oder deinem Storytelling? Komm zu mir. Zusammen lösen wir das.

Foto: Iris Edinger

(Foto: Iris Edinger)

Wenn Sie jetzt zum Beispiel historische Romane schreiben, die im Mittelalter spielen, dann ist eigentlich alles, was dieses Thema bedient, für Ihre Leser*innen potenziell interessant. Umso mehr, wenn es einen Bezug zu Ihren Büchern hat. Sie müssen sich also fragen: Wofür stehe ich als Autor*in? Wie vermittle ich das? Es geht nicht immer darum, eine Story mit Anfang, Mitte und Schluss zu erzählen. Auch wenn das für einzelne Beiträge und Posts sehr hilfreich ist, sie als Shortest Story anzugehen. Wir sollten unser Marketing im Ganzen aber eher als eine Art character development betrachten. Wir stehen für etwas – und alles, was das illustriert, erzählt diesen Character weiter.

Wie wirken Geschichten?

Und gibt es irgendwelche neuen Elemente aus dem Storytelling, die Autor*innen beim Schreiben einsetzen können, die ansonsten schon alle klassischen Werkzeuge des Schreibhandwerks kennen?

Als ich vor acht oder neun Jahren angefangen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, weil die Startups in meinem damaligen Coworking Space mir dauernd damit in den Ohren lagen („Stefan, du bist doch Autor! Hilf uns bei unserem Storytelling!“), war das Spannendste für mich zu sehen, wie sehr sich die Kommunikationsbranche auf Wissenschaft stützte, wenn es um Storys ging. Es gibt jede Menge neurowissenschaftliche und psychologische Studien, die sich damit beschäftigen, wie Geschichten wirken. Unter Autor*innen sind die wenigsten davon bekannt. Es lohnt sich wirklich, sich da einzulesen.

Welche drei Tipps haben Sie in Sachen Storytelling für unsere Leser*innen?

Aus diesen Studien heraus:

  1. Die Figuren sind das Wichtigste. Sie müssen gar nicht komplex sein. Aber die Geschichte muss sich aus ihnen heraus entwickeln. Menschen interessieren sich vor allem für andere Menschen, ihr Verhalten und dessen Ursachen.
  2. Erschaffe eine Welt, die sinnlich wahrnehmbar ist. Da Geschichten unsere Wahrnehmung der Welt quasi kapern, tun wir gut daran, die Welt unserer Geschichte so lebendig darzustellen, wie es nur geht. Das ist ein Allgemeinplatz, ich weiß. Ich bin aber immer wieder überrascht, wie viele das ignorieren.
  3. Kenn dein Publikum! Das kommt jetzt weniger aus den Studien, sondern mehr aus der Recherche meines neuen Buches. Vom Mythos zum Selfie“ erzählt die Geschichte des Erzählens selbst. Angefangen von den Anfängen in der Steinzeit bis hin zu Bestsellern, Filmen, Serien, Games und Social Media heute. Und die Autor*innen, die erfolgreich waren, waren eigentlich immer die, die in engem Kontakt mit ihrem Publikum standen.

Und was müssen wir beim Storytelling unbedingt vermeiden, um nicht zu langweilen?

Stillstand und Erklärungen. Wenn ich das Gefühl habe, nichts mehr entdecken zu können, weil keine Fragen mehr offen sind oder weil ich eh alles erklärt bekomme, bin ich raus. Dann beschäftigt sich mein Gehirn mit etwas anderem.

Vielen Dank für das Interview. 

(Nachdruck – hat jemand ein besseres Wort? – mit freundlicher Genehmigung von Daniela Nagel und der Redaktion des Treffpunkt. Design des Titelbildes: Treffpunkt Magazin.)

Du hast weitere Fragen zum Storytelling oder willst Storytelling für dein Marketing nutzen?

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