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Small Stories Create Big Narratives

Geschichten formen, was wir für wahr halten. Sie werden mächtig, wenn sie wiederholt, geteilt und weitergesponnen werden. Wer entscheidet, welche Geschichten immer wieder erzählt werden, gestaltet die Zukunft.

Wiederhole eine Geschichte oft genug – und sie wird geglaubt.
Wiederhole sie emotional genug – und sie wird gefühlt.
Wiederhole sie in vielen Varianten – und sie wird Wirklichkeit.

Warum Wiederholung Wirklichkeit schafft

Narrative sind die unsichtbaren Muster, mit denen wir die Welt ordnen  – und gestalten. Sie entstehen nicht durch eine große gemeinsame, gesellschaftliche Erzählung, sondern durch unzählige kleine, die sich gegenseitig verstärken. Heute bedeutet das: Kleine Geschichten, Stories und Posts, die viel gesehen, geteilt, kommentiert, geliket werden. So entsteht z.B. das Narrativ der Unsicherheit, das heute die westlichen Gesellschaften prägt, weil Nachrichten, Talkshows und Social-Media-Posts immer und immer wieder von Krisen, Bedrohungen und Kontrollverlust erzählen. Dadurch entsteht das Gefühl einer permanenten Gefährdung. Nicht, weil es objektiv mehr Gefahr gäbe – sondern weil sich unzählige kleine Erzählungen zu einem kollektiven Gefühl verweben.

Auf der anderen Seite prägen viele kleine Geschichten unser Bild davon, dass die Welt vielfältiger ist, als es manchem recht ist. Das  Narrativ der Diversität entstand nicht aus einer einzigen Kampagne, sondern aus vielen individuellen Geschichten – Menschen, die sichtbar wurden, ihre Perspektiven teilten, Rollenbilder veränderten. Filmfiguren, Social-Media-Stimmen, Sportlerinnen, Kolleginnen – all diese Erzählungen verstärken sich gegenseitig, bis Vielfalt selbstverständlich wird. Auch deswegen stoßen sie auf so viel Ablehnung: Weil sie eine mächtige gemeinsame Erzählung erschaffen.

Wie Geschichten Macht gewinnen

Jede Geschichte beginnt zu wachsen, wenn sie geteilt, kommentiert, weitergetragen wird. Eine Geschichte ist erfolgreich, wenn viele Menschen sie wahrnehmen. Narrative entstehen, wenn viele Geschichten den gleichen Inhalt thematisieren. Eine einzelne Story berührt.

Doch erst durch Wiederholung, Variation und Resonanz entsteht ein Narrativ – ein kollektiver Deutungsrahmen, der darüber entscheidet, was wir für wahr, relevant oder moralisch richtig halten.

In sozialen Medien lässt sich das täglich beobachten: Eine Geschichte wird gepostet, kommentiert, kritisiert, parodiert, emotional überhöht – und plötzlich ist sie überall. Nicht, weil sie objektiv wichtiger wäre als andere, sondern weil sie in Umlauf ist. Weil Menschen sie weitererzählen, sie sich aneignen oder gegen sie anschreiben.

Warum Empörung Teil des Problems ist

Empörung ist dabei kein Gegengift, sondern Teil des Mechanismus. Sie dient im schlimmsten Fall als Brandbeschleuniger, der die Geschichte, gegen die sie sich ausspricht, erst richtig groß werden lässt. Auch Widerspruch verstärkt die Präsenz einer Erzählung. Wir verbreiten die Stories, über die wir sprechen – ob wir dafür oder dagegen sind. Am Ende profitieren die, die die Geschichte in die Welt gesetzt haben. „The most powerful person in the world, is the storyteller“, hat der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs einmal gesagt. Er hat im Guten wie im Schlechten Recht.

Wie Wiederholung Wirklichkeit verzerrt

Wird etwa immer wieder behauptet, „Migranten sind kriminell“, dann entsteht mit der Zeit ein hartnäckiges Narrativ, das mit Fakten wenig zu tun hat – aber emotional wirksam ist.

Ein solches Narrativ verändert, wie Menschen auf der Straße einander begegnen. Irgendwann heißt es: „Da muss man doch was tun.“ So beeinflusst es Medienberichte, Wahlentscheidungen und Gesetzgebung und gestaltet die Gesellschaft, in der wir leben.

Selbst wenn ich mich öffentlich von diesem Narrativ abgrenze: Unbeabsichtigt trage ich es weiter. Ein Vorurteil verwandelt sich in politische Realität. Nicht, weil es stimmt – sondern weil es ständig erzählt wird.

Das richtige Gegenmittel

Zum Glück funktioniert dieser Mechanismus auch in die andere Richtung. Als #MeToo begann, waren es viele kleine, persönliche Erfahrungen – Stimmen, die sich gegenseitig Mut machten. Durch Wiederholung entstand ein neues Narrativ über Macht, Verantwortung und Grenzen.

Oder Greta Thunberg, die mit einem Pappschild vor dem Parlament saß. Ihre Geschichte allein hätte wenig bewirkt – doch weil ihre Geschichte tausendfach geteilt, kommentiert und schließlich nacherzählt wurde, wuchs daraus ein globales Narrativ: Wir sind verantwortlich für die Zukunft. Ihre Geschichte wurde aufgegriffen und nachgeahmt, so dass neue Geschichten entstehen konnten, die die Ursprungsstory weitertrugen.

Auch Popkultur kann Narrative verschieben. Serien wie Sex Education oder Heartstopper erzählen queere Geschichten nicht mehr als Ausnahme, sondern als Normalität. Jedes Mal, wenn diese Geschichten weitererzählt, diskutiert, geliebt werden, wird das Narrativ der Diversität selbstverständlicher.

Vor einigen Jahren zeigten Forschende einer Gruppe von Menschen die kanadische Serie „Our Little Mosque On The Prairie“ – eine Familienserie, die die verschiedenen Facetten des Lebens einer muslimischen Familie erzählt, Islamismus inklusive. In der Folge beobachteten sie bei ihren Probanden deutlich veränderte, positivere Einstellungen zu Muslimen als zuvor. Die Geschichte hatte ihr Narrativ verändert. Geschichten können Mauern bauen – oder Türen öffnen.

Das kollektive Gedächtnis entsteht durch Wiederholung

Neurowissenschaftlich ist das simpel: Wiederholung erzeugt Vertrautheit, und Vertrautheit erzeugt Glaubwürdigkeit. Was vertraut klingt, halten wir für wahr. So prägt sich nicht nur ein Songtext ins Gedächtnis ein, sondern auch ein Weltbild. Unsere gesellschaftlichen Narrative entstehen aus unzähligen Wiederholungen – in Schlagzeilen, Tweets, Gesprächen, Filmen, Witzen, Alltagsanekdoten. Geschichten sind wie Spuren im Schnee: Je öfter wir denselben Weg gehen, desto sichtbarer wird er – und irgendwann wird er zur Straße, der alle folgen.

Stories tragen Verantwortung

Weil Geschichten Wirklichkeit formen, trägt jeder von uns Verantwortung dafür, welche Geschichten wir verstärken. Was wir teilen, kommentieren, liken oder ironisch zitieren – auch wem wir widersprechen –,  bestimmt, welche Narrative Gewicht bekommen.

Das bedeutet nicht, dass wir schweigen sollen. Das bedeutet, dass wir wählerischer erzählen sollten. Dass wir bewusst Geschichten weitertragen, die verbinden statt spalten.

Die Aufmerksamkeit, die wir einer Erzählung schenken, ist ihr Sauerstoff. Ohne Wiederholung erlischt sie. Mit ihr wächst sie – ob wir wollen oder nicht.

Erzählen, was verbindet

Wenn wir Veränderung erreichen wollen, brauchen wir Geschichten, die Hoffnung geben. Fridays for Future erzählte, dass ein Mädchen einen Unterschied machen kann. Was ist dann erst möglich, wenn viele sich ihr anschließen? Andere Klimabewegungen erzählten deutlich apokalyptischer und hatten irgendwann zu viele gegen sich.

Und es geht nicht nur darum neue Geschichten zu erzählen – sondern alte anders zu erzählen. Zu wiederholen, variieren, weiter zu denken. Denn es geht auch um Ausdauer. Narrative verändern sich langsam. Dazu braucht es Zeit, Einsatz, Beharrlichkeit. Ein einziges Mal gehört, bleiben Geschichten Worte. Oft genug gehört, werden sie Wirklichkeit. Viele gute Bewegungen sterben, weil ihre Geschichten nicht mehr weitergetragen werden. Weil wir uns anderen, meist negativen Stories zuwenden.

Aber wer die Geschichten auswählt, die sich wiederholen und weitererzählt werden, gestaltet die Zukunft. Wer Gemeinschaft will statt Spaltung, muss Geschichten erzählen, die das Gemeinsame betonen. Immer und immer wieder. Für Jahre, vielleicht länger.

Was kannst du tun?

1. Wähle bewusst, welche Geschichten du verstärkst.

Nicht jede Story verdient ein Like oder einen Kommentar. Aufmerksamkeit ist eine Form von Energie – überlege, wem und welcher Story du sie schenkst. Und auf die du dein Umfeld aufmerksam machst…

2. Erzähle Geschichten weiter, die verbinden.

Teile Erfahrungen, Perspektiven und Beispiele, die Empathie wecken, statt Misstrauen zu säen. Selbst wenn du beste Absichten hast: Befeuere nicht, was du bekämpfst. Wiederhole und erzähle, was (dir) Mut macht.

3. Werde Teil einer Zukunfts-Erzählung.

Große Narrative ändern sich, wenn viele kleine Stimmen neue Töne hineintragen. Erzähle, kommentiere, wiederhole – Stories, die eine Zukunft erzählen, in der du selber leben willst. Small Stories create big Narratives.

Du willst mehr darüber erfahren, wie du eine bessere Zukunft erzählen kannst?

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