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„Man braucht eine Grundsympathie für die Gattung Homo sapiens“

Für die Recherchen zu meinem Buch Düsseldorf – Porträt einer Stadt hatte ich 2016 auch ein Gespräch mit Thomas Geisel geführt, bis gestern Oberbürgermeister der Stadt. Aus aktuellem Anlass und aus Respekt vor einem angenehmen, intelligenten und selbstironischen Gesprächspartner, stelle ich den daraus entstandenen Beitrag aus dem Buch hier online.

Thoams Geisel in seinem Büro als OB der Stadt Düsseldorf

Mit dem Oberbürgermeister Schritt zu halten, ist keine leichte Aufgabe. Im Lauftempo eilen wir von seinem Büro in den Ehrenraum des Rathauses zu seinem nächsten Termin. Auf der Treppe ins Erdgeschoss liest Geisel sein Manuskript durch, in wenigen Minuten wird seine Rede klingen, als sei sie ihm spontan eingefallen.

Anlass ist die Eröffnung des neu gestalteten Ehrenraums, in dem die Stadt Düsseldorf die Amtskette des Oberbürgermeisters, die Ehrenringe und ihre Verdienstmedaille aufbewahrt. Zahlreiche Gäste erwarten bereits Geisels Ankunft. Unter ihnen befindet sich Hilde Becker, die Witwe des Goldschmiedekünstlers Friedrich Becker, der Kette und Ringe entworfen hat. Geisel taucht in die Menge ein, schüttelt hier eine Hand, plauscht dort ein Weilchen. Schließlich sieht er sich um. »Hat der Oberbürgermeister jetzt jeden begrüßt?«, fragt er in die Runde. Nachdem niemand reklamiert, übergangen worden zu sein, begibt er sich ans Rednerpult.

»Man braucht eine Grundsympathie für die Gattung Homo sapiens«, hat mir Geisel zuvor im Interview erklärt. »Es ist wirklich das pralle Leben, das Ihnen begegnet. Sie haben alles: Hochkultur, Schützenfest, Sportfest, Diakonie … Sie lernen die Stadt wirklich in ihrer gesamten Vielfalt kennen.«

Dazu bietet ihm sein Arbeitstag reichlich Gelegenheit. Er beginnt morgens um halb fünf mit dem Studium von Akten. Die nimmt er sich am Vorabend in zwei, manchmal drei Koffern mit nach Hause. »Danach bin ich ziemlich zugeballert mit Terminen. Interne, externe, politische, Repräsentationstermine, morgens den ersten Spatenstich für einen Wohnungsbau, mittags darf ich zum Beispiel ein Buch vorstellen, anschließend die Wandelhalle neu eröffnen.« Auf einer Fläche von 217 Quadratmetern ist Geisel in Personalunion quasi Bundeskanzler, Bundespräsident, Bundestagspräsident und obers- ter Konzernherr – nur eben auf städtischer Ebene. Das Rathaus und Düsseldorf als überschaubarer Arbeitsplatz bieten durchaus Vorteile. »Sie können sehr viele Termine machen, weil Sie keine wahnsinnig langen Fahrtzeiten haben. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft muss manchmal von Detmold bis Bonn und ist mit dem Auto zwei Stunden unterwegs. Von Wittlaer nach Garath schaffen Sie es in einer halben Stunde.«

Trotzdem ist der Kalender des Oberbürgermeisters bis abends oft gut gefüllt. Bei diesem Pensum braucht man eine Familie, die das mitmacht, gibt er offen zu. Denn früh ist er selten zu Hause. Wenn er vor halb neun Feierabend machen kann, ist das die große Ausnahme. Kurze Wege hin oder her, viel Arbeit kann der Oberbürgermeis- ter im Rathaus erledigen. »Wer was will – und es wollen ziemlich viele was –, der kommt meist hierher.«

Neben seinem Büro und dem Plenarsaal, in dem der Rat der Stadt tagt, gehören unter anderem das Heine-Zimmer, die alte Kanzlei und der Saal der Verwaltungskon- ferenz zu Geisels Wirkungsstätten. Das eigene Büro ist jedoch der zentrale und vielleicht persönlichste Ort für ihn. Natürlich hängt ein selbst gemaltes Bild einer seiner Töchter prominent am Regal. »Der beste Papa der Welt«, steht drauf. Daneben schmücken den Raum Fotos der Familie und Fußballtrikots, die Geisel, wie vieles in diesem Zimmer, geschenkt bekommen hat. Selbst erarbeitet hat sich Geisel den Helm für die Teilnahme am Athen-Marathon in Griechenland, den er gelaufen ist. Es war nicht sein erster Marathon, und er hofft, dass es nicht sein letzter sein wird. »Im Moment habe ich leichte Fahrwerksprobleme. Ich bin jedoch noch nicht so alt, also habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«

Hinter seinem Schreibtisch stechen mir vier Fotografien ins Auge, die vom Künstlerpaar Bernd und Hilla Becher stammen. Die Aufnahmen der Begründer der Düsseldorfer Photoschule zeigen Hochöfen und hingen schon in Geisels Büro bei der Ruhrgas AG in Essen, wo er bis 2013 tätig war. Im Regal steht neben dem Düsseldorfer Radschläger als Wahrzeichen der Stadt zudem eine Büste von Heinrich Heine in trauter Zweisamkeit mit einer von Karl Marx, einem Präsent der Oberbürgermeisterin von Chemnitz, der früheren Karl-Marx-Stadt. »Das ist alles Beutekunst«, kommentiert Geisel lachend meinen neugierigen Blick.

»Darf ich das schreiben?«, frage ich.
»Gerne.«

Neben einer Grundsympathie für die Gattung Homo sapiens scheint Humor für einen Oberbürgermeister kein Nachteil zu sein, und damit sind wir schon bei einer grundlegenden Charakterbetrachtung des Düsseldorfers und Rheinländers. »Also mir liegt viel daran, dass das Image dieser Stadt mit der Wirklichkeit stärker übereinstimmt«, erläutert Geisel. »Ein bisschen mehr rheinische Heiterkeit – nicht Frohsinn, da denkt jeder gleich an lärmiges Zeug –, ein bisschen mehr Augenzwinkern, ein bisschen Selbstironie. Das Flanieren am Rhein ist am ehesten ein Sinnbild für das Lebensgefühl Düsseldorfs.« Die Rheinmetropole genieße zwar im Ausland einen guten Ruf, werde allerdings immer noch ein wenig unterschätzt. Die Stadt sei besser als ihr Ruf, betont der Oberbürgermeister. »Ich hab’s am eigenen Leibe im Feldversuch erprobt. Ich bin ja kein gebürtiger Rheinländer.«

Thomas Geisel ist Schwabe, wurde in Ellwangen im Oberalbkreis als Sohn des baden-württembergischen SPD-Politikers Alfred Geisel geboren. Nach mehreren Jahren in Berlin und London wechselte er 2000 zur Essener Ruhrgas. Aus reiner Zweckmäßigkeit und »ohne jede Erwartung« ist die Familie nach Düsseldorf gezogen. Geisels Frau hat damals im Dreischeibenhaus gearbeitet. Als seine Zwillinge geboren wurden, »haben wir gesagt, es ist leichter, dass ich nach Essen pendle, anstatt dass sie jeden Tag mit dem Hauptverkehrsfluss von Essen nach Düsseldorf fährt.« Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte, denn die Familie lebte sich rasch ein. Freimütig gibt der Oberbürgermeister zu, wie schwer es ihm gefallen war, aus Berlin wegzuziehen. »Wir haben jedoch schnell gemerkt, dass Düsseldorf eine richtig geile Stadt ist. Wir sind halt bekennende Städter, und Düsseldorf ist eine echte Metropole im kleinstmöglichen Format.« Zunächst wohnte die Familie in Derendorf, jetzt in Pempelfort. In seinem Viertel schätzt Geisel das Bunte, die vielfältige Gastronomie, die guten Einkaufsmöglichkeiten für jeden Geldbeutel sowie die nette Nachbarschaft, in der man gegenseitig auf die Kinder aufpasst – der Oberbürgermeister vielleicht seltener, wegen seines vollen Terminkalenders.

So schlecht kann es um den Ruf Düsseldorfs nicht bestellt sein. Wie die Geisels machen jedes Jahr 5.000 bis 10.000 Einwohner die Landeshauptstadt zu ihrer neuen Heimat. Dieses kontinuierliche Wachstum zu bewältigen, ist für den Oberbürgermeister die Kernaufgabe seiner politischen Tätigkeit. Knapp 300.000 Menschen fahren täglich zur Arbeit nach Düsseldorf. Viele von ihnen würden auch gerne in der Stadt leben, können es sich jedoch nicht leisten.

»Wir stehen in der Pflicht, den Menschen zumindest die Möglichkeit zu bieten, hier zu wohnen, und zwar zu einem Preis, der nicht zu einem sozialen Umbruch führt. Wenn wir keine neuen Wohnungen bauen, schlägt sich das im Preis nieder. Das wäre eine verhängnisvolle Entwicklung.«

Ein weiteres wichtiges Thema für Geisel ist die Verkehrssituation. Sie hängt mit dem Bevölkerungszuwachs zusammen. »Reden wir über die Bewältigung des Wachstums, kommen wir zu der Frage, wie wir verhindern, dass die Leute immer mehr im Stau stehen. Wir müssen die leistungsfähigsten Verkehrsmittel nutzen, und das sind der öffentliche Nahverkehr und das Fahrrad.« Es ginge ihm darum, ein Stück weit Anreize zu schaffen, um auf das Auto zu verzichten.

Zum Abschluss des Interviews möchte ich noch eines wissen, abseits von politischen Brennpunkten, Arbeitszeiten und Imagefragen: Wovon lebt eine Stadt wie Düsseldorf? Der Oberbürgermeister denkt einen Augenblick nach, bevor er erwidert: »Von der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt. Es gibt das schöne Wort ›Heimat‹, das mehr meint als eine rein geografische Adresse. Düsseldorf hat viele Facetten, doch wenn man letztlich sagen müsste, was die Stadt ausmacht, ist es das spezielle Lebensgefühl. Düsseldorf ist eine extrem vielfältige Stadt.«

Mehr Porträts von Düsseldorfern, u.a. Henkel-Chefin Simone Bagel-Trah und Künstlerin Tita Giese, sowie weitere Fotos findest du im Buch „Düsseldorf – Porträt einer Stadt.

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